Wir haben letzte Woche einen Vortrag zum Thema Flüchtlingsabwehr an den EU-Außengrenzen gehalten. Motivation ist, dass ja immer weniger Flüchtlinge/MigrantInnen legal in die EU einreisen können, sondern schon an den Außengrenzen abgehalten werden. Die Lager in Deutschland werden dabei immer leerer, und klassische Arbeit in der Flüchtlingssolidarität wird immer schwieriger, zum einen, weil eben immer weniger Leute da sind, zum anderen, weil auch die Öffentlichkeit das Thema bald nur noch als Randthema wahrnehmen wird und wir Probleme haben werden, unsere Inhalte unterzukriegen. Deshalb haben wir angefangen, unsere Aufmerksamkeit auch auf die EU-Außengrenzen zu richten. Wir möchten hier aber nocheinmal klar sagen, dass es umso wichtiger ist, für all die Flüchtlinge, die seit Jahren mit der Duldung leben, endlich ein Bleiberecht zu erstreiten, und dafür werden wir uns auch weiter einsetzen. Es ist wichtig, nicht von einem Aktionsfeld zum nächsten zu springen, sondern Konsequenz zu zeigen. Dennoch wollen wir auf der Höhe der aktuellen Entwicklung bleiben, und deswegen halten wir eine Beschäftigung mit der EU für unumgänglich.
Wir halten den Vortag übrigens gerne wieder, Anfragen über die Karawane.
Nach der Vorstellung der Karawanehaben wir nochmal weit ausgeholt und sind bis nach 1992 zurückgegangen. 1992 kam es in Rostock-Lichtenhagen zu tagelangen gewalttätigen Ausschreitungen gegen Flüchtlinge und ArbeitsmigrantInnen, die Polizei griff nicht ein. Die Politik nutzte diese Geschehnisse, um zu argumentieren, dass Deutschland keine weiteren Flüchtlinge/MigrantInnen aufnehmen können, da „die Bevölkerung schon überfordert“ wäre und 1993 den Artikel 16 GG, Grundrecht auf Asyl, so zu ändern, dass alle antirassistische gesinnten Menschen jahrelang von der „faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl“ sprachen.
Von der Konsequenz ist diese Formulierung vielleicht auch richtig, aber sie geht dennoch ein wenig am Kern vorbei. Knackpunkt der Regelung war, dass Leute eigentlich schon noch das Recht auf Asyl hatten, nur hatten sie keine Möglichkeit mehr, es in Anspruch zu nehmen. Verantwortlich dafür waren zwei Tricks, und auf die wollten wir genau hinaus, denn diese beiden Tricks ziehen sich seit 1993 durch die EU-Flüchtlingspolitik:
Trick 1: Die so genannte „sichere Drittstaatenregelung“. Wer auf dem Landweg nach Deutschland kam und dabei einen sicheren Drittstaat passierte, konnte umgehend in diesen zurrückgeschoben werden, da er ja dort auch sicher vor politischer Verfolgung sei und daher dort seinen Asylantrag stellen können. Deutschland erklärte sich als von sicheren Drittstaaten umgeben, daher konnte alle auf dem Landweg Flüchtende keinen Asylantrag mehr stellen.
Trick 2: Flughafenverfahren, die Exterritorialisierung. Wer mit dem Flugzeug in Deutschland ankam, konnte noch im Flughafen im extraterritorialen Bereich (also da wo Deutschland noch nicht offiziell Deutschland ist) aufgehalten werden und dort unter erschwerten Bedingungen seinen Asylantrag stellen.
Fazit: es gab keine legale Möglichkeit mehr, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Es folgten zwei Entwicklungen. Zum ersten die Illegalisierung von Flucht: Wer einen Asylantrag stellen wollte, musste illegal bis tief nach Deutschland hinein einreisen, um dort einen Asylantrag mit einer verschleierten Fluchtroute zu stellen. Zum zweiten: Europäische Harmonisierung. Innerhalb der EU wurden die Gesetze und Regelungen für Flüchtlinge immer weiter aneinander angepasst, und Deutschland spielte da eine Vorreiterrolle. Wichtige Punkte in dieser Harmonisierung waren da die Abkommen Schengen und Dublin II.
Für die meisten Leute bedeutet Schengen, ohne Grenzkontrollen innerhalb der EU reisen zu können. Die Kehrseite war jedoch, u.a., eine verstärkte Abschottung der EU-Außengrenze und der Aufbau eines europäischen Computersystems, um Menschen grenzenübergreifend verfolgen zu können: das Schengen Information System SIS.
Dublin II ist vor allem eine Regelung für Flüchtlinge, nach der nur noch ein Asylantrag in der EU gestellt werden kann, und zwar in dem Land, in dem mensch zuerst ankam. Es ist sozusagen eine interne EU-Drittstaatenregelung mit erweiterter Kooperation. Vielen irakischen Flüchtlingen wird zur Zeit Dublin II zum Verhängnis, weil sie den Abschiebungen aus und den Asylverweigerungen in Deutschland entgehen wollen und in EU-Staaten gehen, in denen sie sich mehr Erfolg für ihren Asylantrag versprechen. Diese Staaten sind jedoch verpflichtet, die Leute nach Deutschland zurückzuschieben, denn dort wurde ja schon ein Antrag gestellt. Wie können diese Leute identifiziert werden? Im SIS sind die Fingerabdrücke aller Asylantragsteller gespeichert. (Dies hat uns zu der Bemerkung geführt, dass Herrschaftstechnologien oft an Flüchtlingen ausprobiert werden, bevor sie auf die allgemeine Bevölkerung angewandt werden. Denn ab November werden die Fingerabdrücke eines deutschen Passinhabers in seinem Pass gespeichert).
Dann kam ein spezieller Teil zu einem geschlossenen Flüchtlingslager in der Ukraine, kurz außerhalb der EU-Grenze: Pawschino. Alle Informationen dazu gibt es auf pawschino.antira.info, daher spare ich mir das.
Danach kamen wir dann auf Frontex zu sprechen, der „Agentur für die operative Zusammenarbeit an den EU-Außengrenzen“. Diese spezielle Agentur ist der Jagd auf Flüchtlinge an der EU-Außengrenze verpflichtet, also sozusagen eine europäische Version des alten Bundesgrenzschutzes (die ja damals auch oft als „Bundesmenschenjäger“ bezeichnet wurden). Frontex sagt zwar von sich selbst, vor allem Flüchtlingen helfen zu wollen, in der Tat geht es aber etwa darum, Flüchtlingsboote auf dem Meer abzufangen und zurückzuweisen. Frontex hat verschiedene Aufgaben, die hier nachlesbar sind. Auf jeden Fall ist Frontex eine paramilitärische und geheimdienstliche Agentur, die keine Rechenschaftspflicht kennt: Krieg gegen Flüchtlinge.
Der Punkt, den wir aber eigentlich machen wollten, war, dass die beiden Tricks von 1993 sich mittlerweile in der EU-Flüchtlingspolitik durchgesetzt haben. Das Prinzip der sicheren Drittstaaten wird immer weiter angewandt, um Leute nicht einmal in die EU kommen zu lassen, weil ja auch die EU von sicheren Drittstaaten umgeben sei. Damit dem auch wirklich so ist, wird durch die so genannte European Neighbourhood Policy vorangetrieben, wozu es auch einen guten Artikel gibt. Es gibt eine weitere Vorverlagerung der EU-Außengrenzen, beispielsweise hat Italien 2005 Libyen mit modernstem Grenzschutzmaterial ausgerüstet, damit Libyen seine Südgrenze, die irgendwo in der Sahara liegt, gegen Flüchtlinge absschottet. Marroko hat nach den Ereignissen von Ceuta/Melilla 2005 auch Hilfe in Millionenhöhe erhalten, um seine Grenzen dicht zu machen, und die Ukraine unterhält das Lager in Pawschino auch nicht, weil sie schlimmere Menschenfeinde als die EU-Bürokraten sind, sondern weil es einfach Kohle bringt und die Ukraine damit zwar keine EU-Beitrittsperspektive hat, aber immerhin für eine „privilegierte Partnerschaft“ hat und Freihandel mit der EU treiben kann.
Das Prinzip der Exterritorialisierung findet Niederschlag in den Aktivitäten von Frontex, Leute vor der EU abzuhalten. Das Lager in Pawschino ist auch ein Auswuchs dessen (den Leute wird gesagt, sie sollen ihren Asylantrag in der Ukraine stellen), und Otto Schily hat 2005 ja vorgeschlagen, so genannte Regional Protection Areas einzurichten, also Flüchtlinge dort festzuhalten, wo sie herkommen.
Das als kurze Zusammenfassung unseres Vortrags. Wichtig war uns auf jeden Fall noch einmal zu betonen, dass die vielen Menschenrechtsverletzungen und Tode an den Außengrenzen keinesfalls darauf zurückzuführen sind, dass die Länder und Menschen dort „unzivilisierter“ sind als etwa Deutschland oder Frankreich. Wir halten das für eine rassistische Sichtweise. Wir gehen nicht davon aus, dass Frontex oder die EU irgendeinen zivilisierenden Einfluß hat, nein im Gegenteil haben sie die ganze Misere ja verursacht. Wer sich in den 90er Jahren mit den Zuständen an der deutsch-polnischen Grenzen auseinandergesetzt hat, weiß, dass dort auch viele Menschen gestorben sind oder von Grenzern misshandelt worden sind. Und gerade weil keine andere Großmacht so sehr das Banner der Menschenrechte vor sich her trägt, ist es um so schändlicher und schizophrener, was die Europäische Union mit Flüchtlingen macht: Sie spielen mit vielen Tausend Menschenleben im Namen der Flüchtlingshilfe.
Wir gehen davon aus, dass Migration als Phänomen nicht regierbar ist und ständig im Widerstreit mit regulierenden Faktoren steht, diesen Widerstreit sogar oft gewinnt. Seit 1993 versucht Deutschland/EU, einen Weg zu finden, Migration zu kontrollieren. Solange sie diesen Weg nicht gefunden haben, improvisieren sie. Diese Improvisation hat mittlerweile zu über 10.000 Toten an den EU-Aßengrenzen geführt, aber eine Abkehr von der Abschottung der EU ist nicht in Sicht. Diese Abkehr ist jedoch überfällig.