Der 1500-EinwohnerInnen Ort Böbrach liegt ca. 170 Kilometer von München entfernt inmitten des “Naturpark Bayerischer Wald”, direkt an der bayrisch-tschechischen Grenze. Die kleine Gemeinde scheint hauptsächlich vom Tourismus zu leben, wobei ein erster Rundgang darauf schließen lässt, dass hier im wesentlichen ein Kundenpotential jenseits der Sechzig angesprochen wird, was wohl auch daran liegen mag, dass die Skigebiete der Region nicht in direkter Nachbarschaft liegen und das Freizeitangebot somit vor allem aus Wandern, Spazieren sowie im Winter auch Langlaufen besteht. Ein weiteres touristisches Highlight scheint darüber hinaus das örtliche Schnapsmuseum zu sein, dessen Besuch allerdings aufgrund meiner Anreise per Auto leider auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden muss. Stichwort Auto: Der Besitz eines Autos scheint hier geradezu zwingend zu sein, wie ein Blick auf den Busfahrplan belegt; solider zwei Stunden Takt in die Metropole der Region – die Kreisstadt Regen – wo sich auch die zuständige Ausländerbehörde befindet.
Nach einigem Suchen (selbst das Navi kennt die Adresse nicht) finde ich das von mir anvisierte Ziel: Die örtliche Unterkunft für Asylbewerber. Meine Suche resultiert aus der Tatsache, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass am Ende dieses dunklen Waldweges wirklich noch Häuser stehen, bzw. gar eine Flüchtlingsunterkunft zu finden ist. Der erste Eindruck beim Betrachten des Gebäudes ist eine Mischung aus blankem Entsetzen aber auch einer gewissen Art von innerem Sarkasmus: Mir klingt die Stimme des mittlerweile geschassten CSU-Politikers Beckstein im Ohr, der immer wieder die angeblich mangelnde Integrationsbereitschaft der MigrantInnen bemängelte. Integration würde hier wohl bedeuten, selbst ein Baum in diesem undurchdringbaren Dickicht zu werden, oder aber eine intensive Freundschaft mit dem – hier zweifelsohne stark beheimateten – Rotwild einzugehen. So ist der Alltag auch im Wesentlichen durch “Schlafen und Essen” gekennzeichnet, wie mir von einigen Bewohnern berichtet wird, die mich in ihre “Zwangs-WG” einladen, einer vielleicht 40 Quadratmeter großen Wohneinheit mit separatem Eingang, Mini-Küche, Bad und zwei mit Hochbetten vollgestellten Zimmern: Offiziell sind hier sieben Personen untergebracht, von denen allerdings nur drei dauerhaft anwesend sind, der Rest erscheint nur zur monatlichen Taschengeldausgabe, wohl weniger wegen den 40 Euro, als vielmehr um eine Unterschrift und damit formales Zeugnis davon abzulegen, dass man sich tatsächlich – wie von der bayerischen Asylverfahrensrichtlinie vorgeschrieben – an diesem unwirklichen Ort aufhält. Diese Situation scheint symptomatisch für das ganze Lager zu sein: Nur ca. 15 statt offiziell 60 – 80 Personen wohnen hier dauerhaft. Rein quantitativ betrachtet zeigt sich hier also ein immenser migrantischer Widerstand, der sich primär im Verlassen des zugewiesenen Raumes äußert und somit eine praktische Unterwanderung des Kontroll- und Verwaltungsdispostivs darstellt. Auf der Stecke bleiben hier diejenigen, die nicht über die nötigen Anknüpfungspunkte an migrantische Communities bzw. über ausreichende finanzielle Ressourcen verfügen um ein Leben jenseits des Lagers organisieren zu können.
Im Gegensatz zu Lagern in Metropolen wie München oder Nürnberg kommen an solch isolierten Orten wie dem Lager in Böbrach noch einige Faktoren hinzu, die die Lebensrealität der dort lebenden Menschen erheblich erschweren: People of Color sind in ländlichen, bayerischen Gemeinden eben nicht im tagtäglichen Straßenbild präsent, d.h. sie werden von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als “Flüchtlinge” identifiziert, egal ob sie es tatsächlich sind oder nicht. Neben dem strukturellen Rassismus sowie dem Alltagsrassismus – den es zweifelsfrei auch in München oder Nürnberg gibt – sind diese Menschen also weit stärker von Asylmissbrauchs-Diskurs betroffen, der seinen Höhepunkt zwar schon Anfang der 90ger hatte, aber nach wie vor extreme negative Auswirkungen bei der Bewertung der “anderen“, der “fremden” Subjekte hat. In diesem Kontext verwundert auch die Geschichte nicht, die mir über die sonntägliche, katholische Messe in Böbrach erzählt wurde: Der Pfarrer reagierte auf den Besuch eines Bewohners des Lagers schlichtweg mit Ignoranz, d.h. die Begrüßung seitens des migrantischen Besuchers wurde mit eisernem Schweigen beantwortet. Zweitens scheint die Segmentierung des Arbeitsmarktes, die juridisch auf der sog. Beschäftigungsverfahrensordnung basiert und den Arbeitsmarktzugang für Asylsuchende bzw. Geduldete erheblich einschränkt, schwerwiegendere Auswirkungen zu haben als dies in den Metroplen der Fall ist. In Böbrach und Umgebung gibt es, wie mir berichtet wurde, weder einen legalen noch ein informellen Arbeitsmarkt auf den die BewohnerInnen des Lagers zurückgreifen könnten. Dies verwundert insbesondere aufgrund der Tatsache, dass es viele Gastronomie- und Hotelbetriebe in der Region gibt, also durchaus ein Beschäftigungssektor vorhanden ist, der in Städten wie München stark migrantisch geprägt ist. Drittens ist die räumliche und damit auch die soziale Mobilität wesentlich stärker beschränkt: Einerseits aufgrund ökonomischer Faktoren (so kostet die Hin und Rückfahrt nach Regen, wo sich auch das nächstgelegene Internetcafe befindet, acht Euro) anderseits sind die Auswirkungen der Residenzpflicht hier gravierender, da es im Landkreis so gut wie keine Städte gibt, in denen migrantische Netzwerke existieren. So kann der Besuch bei Freunden oder Bekannten wesentlich schneller mit einem Bußgeld oder gar einer Haftstrafe enden, da diese meist außerhalb des Landkreises wohnen.
Positiv anzumerken bleibt, dass die Leute mit denen ich in Böbrach gesprochen habe, ihren Humor nicht verloren zu haben scheinen, auch wenn offensichtlich ist, dass ein Leben unter diesen Umständen mittelfristig nahezu zwangsläufig in die Depression führen muss. Und auch der Hausmeister sowie die Caritasbetreuung vor Ort scheinen ihren Handlungsspielraum durchaus im Sinne der MigrantInnen zu nutzen. So nimmt die Caritas regelmäßig Leute umsonst nach Regen mit, und auch die Anwesenheitskontrollen scheinen wesentlich weniger restriktiv zu sein, als dies in anderen Lagern der Fall ist. Im Rahmen der aktuellen Debatte um die Entschärfung der Lagerpflicht in Bayern sollten die „Dschungelheime“ noch weit stärker thematisiert werden. Vor allem das bayernweite Lagerlandnetzwerk dürfte hierzu den passenden Rahmen bieten.
Allen, die sich weitergehend für die Geschichte der bundesdeutschen Lager, ihre gesellschaftliche Funktion sowie die Realitäten in ihnen interessieren, sei das neu erschienene Buch von Tobias Pieper empfohlen: “Die Gegenwart der Lager – zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik”.