Let’s talk about sexism!

Ein Blog-Beitrag muss eigentlich spontan runter geschrieben werden, so wie einem die Gedanken gerade durch den Kopf fließen. Direkt und ohne große Reflektion formuliert. Aber manchmal ist es deutlich schwieriger. Wie bei diesem, an dem ich schon seit vielen Tagen sitze. Seufz! Dabei soll er nicht mehr und nicht weniger als ganz persönlich sein.

Vorab erstmal die Klarstellung, dass dieser Text nicht die Meinung der Karawane München spiegelt, sondern nur meine Position. Das gilt für alle CaravaLOG-Artikel. Als „Lets talk about sex!“ vor mehr als einem Jahr online ging, wollte ich sofort eine Erwiderung in die Tasten hacken. Aber dann kam mir ein Projekt dazwischen – und jetzt ist es ungleich schwieriger. Ich muss ausholen, um kurz zu erklären, worum es geht.

Nach der letzten Lagerland-Tour 2006 entbrannte in der Karawane München die Sexismus-Debatte. Die Kontroverse war nicht neu, immer wieder war es in der Vergangenheit bei Aktionen zu Eklats gekommen, Frauen sahen sich sexistischen Herabsetzungen und Belästigungen ausgesetzt. So auch während „International Refugee Human Rights Tour“ . Frauen- und Männerplena wurden gebildet, es wurde angeklagt und diskutiert, alles höchst emotional. Die Flammen schlugen hoch, der schwelende Konflikt hatte sich wieder entzündet.

Sexsimus-Debatte

Das Magazin „Hinterland“ nahm sich in der Folge des Themas an. Ein Heft mit Schwerpunkt „Lass uns nicht von Sex reden“ erschien, darin auch ein Beitrag mit anonymisierten Statements von (ehemaligen) Karawane-Mitgliedern unter dem Titel „Die Sexismuskiste. Annäherungsversuch an die Konfliktlinien“. Weitgehend unkommentiert stehen sich hier auf acht Seiten völlig unterschiedliche Meinungen gegenüber und mit einigen war ich gar nicht einverstanden.

Derweilen war die Karawane München längst wieder zur Tagesordnung übergegangen, Aktion folge auf Aktion. Ich hatte mir vorgenommen, eine Art Leitfaden für die Gruppe zu verfassen, einen Entwurf, um über den künftigen Umgang mit Sexismus weiter zu diskutieren, und klar formulierte Grundlagen für den Umgang mit Situationen zu finden, in denen sich Frauen aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert, herabgesetzt oder belästigt fühlen. Ich studierte alle Protokolle der Frauen-Vernetzungs-Treffen und natürlich auch den Hinterland-Artikel. Leider blieb es wie so oft bei einer umfangreichen Materialsammlung und einem groben Vor-Entwurf, der bis jetzt liegen blieb. Die Sanddünen der alltäglichen Anforderungen türmten sich darüber auf, dazu in der Karawane der Kampf gegen Abschiebungen (in den Irak), die Karawane-Tour, Heiligendamm (Migrationsaktionstag am 4. Juni 2007 in Rostock-Lichtenhagen), die Lagerschließungen, der Panafrikanismus-Tag in München und die Proteste gegen Botschaftsanhörungen. Zuletzt erwischte mich – wie die ganze Karawane – der Tod von Ilse Ende 2007 kalt.

Flirten oder sexistische Anmache?

Manchmal hilft es, einen Tritt von Außen zu bekommen, um sich an Wesentliches zu erinnern. Ein Brief erreichte die Karawane – ein Schreiben mit der Gretchen-Frage, wie wir es denn mit dem Blog-Beitrag „Lets talk about sex!“ hielten, der schon so lange unkommentiert auf unserer Website stehe, ob er denn die Meinung der Gruppe wiedergebe?

Tut er natürlich nicht, er ist eine ganz persönliche Äußerung eines Karawane-Aktivisten – genau wie alle anderen CaravaLOG-Artikel, die auch ganz persönliche Eindrücke und Stellungnahmen darstellen. Und um es nochmals zu betonen: Das gilt auch für diesen Text, der ganz bewusst „Let’s talk about sexism!“ übertitelt ist.

Die deutsche Minimaldefinition nach Wikipedia lautet: „Unter Sexismus versteht man die Diskriminierung oder Unterdrückung von Menschen allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit.“ Es geht um Unterdrückung und Herabsetzung und nicht um jede Annäherung zwischen Mann und Frau. Und es geht bei der Diskussion schon gar nicht um Flirten, gegenseitiges Angezogensein, den großen Balztanz. Nein, es geht um Übergriffe, die kleinen und großen Übergriffe, die jenseits eines gemeinsamen Einverständnisses stattfinden, und um die Verletzungen, die daraus entstehen, dass jemand sich nicht als individuelle Persönlichkeit wahrgenommen sieht, sondern aufgrund des Geschlechts herab gesetzt oder sogar zum Sex-Objekt degradiert.

Nein ist nein – und wenn eine Frau keine Annäherung wünscht und das durch Ignorieren oder klare Ablehnung zeigt, dann ist jeder weitere Annäherungsversuch seitens eines Mannes sexuelle Belästigung. Das sollte selbstverständlich sein.

Rassismus und Sexsimus

In der Karawane ist eine klare anti-rassistische Haltung die notwendige Grundlage der gleichberechtigten Zusammenarbeit von Flüchtlingen und Deutschen. Genau so selbstverständlich muss die Ablehnung aller Formen von Sexismus sein. Aber genau die Schnittstelle dieser beiden Diskriminierungsformen wirft ganz eigene Probleme auf. In der Vergangenheit sahen Feministinnen (männliche und weibliche) Migranten immer wieder vor allem als Bedrohung feministischer Errungenschaften, umgekehrt lehnt ein Teil der männlichen Migranten die Forderung nach Gleichberechtigung ab.

Sexismus und Rassismus (den Begriff der Klasse lass ich jetzt mal bewusst aus) sind Strategien zur Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen, sie schaffen Hierarchien. Beide Formen der Diskriminierung wirken individuell gleich verletzend, aber der Sexismus zielt auf Eingrenzung, der Rassismus auf Ausgrenzung.

Um zu diskriminieren, ist Macht erforderlich, unterdrückt wird immer von oben herab. Aber gerade da liegt die Schwierigkeit in einer weiblich und männlich gemischten Gruppe von Deutschen und Flüchtlingen, denn wer steht hier in der gesellschaftlichen Hierarchie über wem? Tatsächlich nimmt jeder und jede immer wieder verschiedene Machtpositionen ein – was gerade im Umgang ausländischer Männer und deutscher Frauen zu Dominanzgeflechten und damit einer gewissen Konfusion führt (vgl. Birgit Rommelspacher: „Interdependenzen- Geschlecht, Klasse und Ethnizität“).

Nach meiner Erfahrung ist es oft so, dass sich deutsche Frauen schnell durch ausländische Männer angemacht fühlen und nicht klar Nein sagen, weil sie befürchten, dann als Rassistinnen da zu stehen. Das ist eine Haltung, die ich inakzeptabel finde, denn in diesem Moment wird das Gegenüber nicht als gleichwertig betrachtet, sondern bevormundet. Eine paternalistische oder besser maternalistische Haltung, die ich ablehne. Genau wie sexistische Anmache von deutschen Frauen gegenüber ausländischen Männern, die ich auch schon erlebt habe (von Äußerungen wie „Hey, Du süßer Schokobrocken!“, über auf den Hintern tätscheln, bis zu einer Frau, die einem Afrikaner, den sie zum ersten Mal sah, wortlos als Angebot ein Kondom vor die Nase hielt).

Grenzüberschreitungen und Reaktionen

Der Autor von „Let’s talk about sex“ schreibt ausführlich darüber, dass es völlig normal sei, dass Frauen und Männer sich annähern möchten und er unterstellt, dass viele Frauen jeden Annäherungsversuch an sich als Sexismus definieren. Das ist falsch – und steht auch in keinem Statement in der Hinterland-Ausgabe. Persönliche Grenzen sind individuell sehr verschieden, aber als Seximus wird jede Frau nur Annäherungen definieren, die unerwünscht sind, herabsetzend, belästigend oder übergriffig. Der Autor schreibt aber auch klar und deutlich: “Of course when a man continues to make passes at a woman who has clearly indicated her disinterest or objection to such passes then it amounts to sexual harassment on the part of the man.” Das ist zu unterstreichen, Belästigung beginnt dort, wo kein Einvernehmen ist.

Es geht nicht darum, ob “Anmacher” bei Karawane-Aktionen wirklich Mitglieder der Karawane sind, also kontinuierlich mitarbeiten. In jedem Fall muss die Karawane als politische Gruppe bei allen ihren Aktionen alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen schützen. Und zwar als Gruppe, den alle und damit jede/r ist in der Pflicht, gegen rassistische oder sexistische (oder jede Art der diskriminierenden) Grenzverletzung vorzugehen.

Wir sollten aufhören, darüber zu streiten, wer was wann wie gemacht hat.

Es geht um Positionen, nicht Personen. Auf gar keinen Fall geht es, dass Frauen, die eine Diskussion über Sexismus führen wollen, reiner Männerhass unterstellt wird. Wichtig ist, klare Verhaltensformen zu finden, damit sexistische Belästigungen oder Übergriffe künftig nicht mehr vorkommen, bzw. solche Situationen sofort beendet werden. Dabei steht der Schutz des Opfers im Vordergrund. Keine Frau muss sich dafür rechfertigen, dass sie sich sexistisch belästigt fühlt, entscheidend ist ihre individuelle Grenze. Es genügt, dass sie sagt, sie fühlt sich belästigt und deutlich Nein sagt – der entsprechende Mann muss seine Annäherungsversuche dann sofort komplett einstellen. Ohne lange Debatten, Schuldzuweisungen oder Rechtfertigungen. Individuelle Grenzen werden in der Karawane wahrgenommen, respektiert und geschützt. Das kann und muss die gesamte Gruppe einfordern und entsprechend intervenieren. Selbstverständlich muss die Reaktion angemessen sein, jemanden (ohne jedes Wort vorab) zur Seite zu schubsen oder zu schlagen, ist nicht angemessen.

Ja, lasst uns weiter über Sexismus sprechen. Das ist notwendig – in aller Offenheit und ohne persönliche Diffamierungen. Die Karawane München stellt sich dem Thema. Es gilt Motive, Strukturen, Verhaltensweisen und Schutz zu diskutieren. Damit Sexismus in der Gruppe und bei Aktionen, an denen die Karawane beteiligt ist, keine Chance mehr hat.