proudly presents: re/visionen

Wir freuen uns, nach langer Wartezeit ein Buch ankündigen zu können, zu dem auch die Karawane München einen Artikel beitragen konnte:

re/visionen - das Buch

Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hg.)
re/visionen
Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland
ISBN-13: 978-3-89771-458-8
Ausstattung: br., 456 Seiten
Preis: 24.00 Euro
http://www.unrast-verlag.de/…, Buchflyer

Die Entstehungsgeschichte unseres Artikels ist selber schon interessant, denn die Auflage der HerausgeberInnen, ausschließlich „people of color“ als AutorInnen zu gewinnen, ist nicht ganz die Linie, die wir als Karawane vertreten. Unser Ansatz ist es ja, unabhängig von Herkunft und Nationalität zusammenzuarbeiten, sozusagen nach dem Motto „es zählt nicht, wo du herkommst, sondern ob du mit uns zusammenarbeiten willst“. Das könnte als post-identitär beschrieben werden, bei uns ist es wohl einfach pragmatisch: bei uns engagieren sich viele Nicht-„people of color“, und die gemeinsame Arbeit ist, meiner Meinung nach, was wir an der Karawane am meisten geniessen, und die uns auch erst unsere Schlagkraft gibt. Der andere Ansatz, sich also exklusiv zu versammeln, hat meiner Meinung nach auch seine Berechtigung (vgl. beispielsweise hier). Es ist eben nicht immer so einfach. Die Leute von Kanak Attak beispielsweise haben sich gleich grundsätzlich geweigert, an dem Buch mitzuwirken, da (so geht es aus dem letzten Artikel im Buch hervor) der Ausschluß von Menschen europäischer Herkunft kritisiert wurde. Kein so leicht von der Hand zu weisender Punkt.

Ich denke nicht, dass es eine unwichtige Diskussion ist, die da geführt wird, aber die Karawane hat es mal wieder pragmatisch gesehen, das Projekt an und für sich für wichtig befunden und die Chance gerne genutzt, etwas beizutragen. Um den HerausgeberInnen gerecht zu werden, haben wir beschlossen, möglichst viele FlüchtlingsaktivistInnen der Karawane zu bitten, einen Beitrag über ihre Zeit in der Karawane zu verfassen, sei es schriftlich oder mündlich und haben diese Beiträge dann in den Artikel synthetisiert. Er ist dadurch etwas holprig, aber nur so reflektiert er die Dynamik und Unfestlegbarkeit der Karawane München. Der Artikel handelt von der Situation von Flüchtlingen in Deutschland, der Anfangszeit der Karawane, Aktionen zu gegen Abschiebungen und für ein Bleiberecht, dem Boykott von Botschaftsvorführungen, Widerstand in Lagern, dem Essenspaketeboykott und Überlegungen zu Selbstorganisierungsprozesse durch die Karawane. Wir bieten eine kleine Leseprobe am Ende des Artikels.

Wir vertreiben das Buch zur Zeit nicht selber. Wer sich das Buch bestellen will, der sei auf die Buchhandlung unserer Wahl, die Basis Buchhandlung im Univiertel in München hingewiesen. Eine kurze Email, schon ist das Buch bestellt und kann bald abgeholt werden. Das ist fast so einfach wie bei amazon, unterstützt aber einen kleinen Laden, der uns immer mit einem hochaktuellen und interessanten Sortiment beglückt.

Es folgt nun unsere Leseprobe zum Thema „Abschiebung und Bleiberecht“ und nachfolgend ein Artikel des Mitherausgebers Kien Nghi Ha, der noch etwas mehr zum Buch sagt.

Abschiebungen und Bleiberecht

Ein zentrales Aktionsfeld der Karawane ist der Kampf gegen Abschiebungen und für ein Bleiberecht. Es gelang Aktivist/-innen mehrere Male, mitwirkende Fluglinien so unter Druck zu setzen, dass sie sich letztlich weigerten, eine Abschiebung durchzuführen. Der direkte Kontakt zu Betroffenen ermöglichte diese Aktionen, weil die Karawane-Aktivist/-innen erfuhren, wann bevorstehende Abschiebungen anstanden und ob die Verhinderung der Abschiebung gewollt war.

Adjoya Koffi berichtet über die Verhinderung ihrer Abschiebung:

Ich war in meinem Zimmer, an einem Donnerstag um 5 Uhr morgens, zusammen mit meiner Tochter. Zwei Polizisten, ein Mann und eine Frau, kamen und klopften an meine Tür. Ich fragte: >Wer da?Polizei!Bist du Adjoya Koffi?Heute wirst du nach Hause zurückkehren.Ich bin hier mit meinem Kind. Warum hat man mir nicht zwei oder drei Tage früher Bescheid gesagt, damit ich mich vorbereiten kann? Was mache ich mit meiner Tochter?< Sie antworteten mir, dass sie am Tag vorher dem Büro Bescheid gesagt hätten. Aber das Büro hatte mir nichts gesagt. Sie sagten mir, ich hätte zwei Stunden Zeit, um 7 Uhr würden wir fahren. Ich habe nichts mitgenommen. Ich habe meine Tochter um 5 Uhr früh aufgeweckt. Sie hat sich die Zähne geputzt. Ich habe sie angezogen um loszufahren. Ich hatte die Telefonnummer einer Mitstreiterin. Wir haben ihr gesagt, dass die Polizei mich mitnehmen will und sie hat die Karawane verständigt. Ich war im Auto und einer von der Karawane rief mich an, wo ich bin. Er fragte mich, welchen Flug ich nehmen würde. Die Polizei sagte mir, es sei der Flug mit der KLM um 10 Uhr. Als ich am Flughafen ankam, hatte die Karawane schon ihre Arbeit gemacht. Man ließ mich nach Hause fahren. Die Karawane hat für mich gekämpft und mein Leben gerettet.

Adjoya Koffi ist in der Vereinigung der togoischen Frauen in Deutschland (AFTA) aktiv. In der Zeit von 2002 bis 2004 waren zahlreiche togoische Flüchtlinge akut von Abschiebung bedroht. Sie hatten bis dahin jahrelang im prekären Duldungsstatus gelebt. Viele ihrer Kinder sind in München geboren und aufgewachsen. Gerade die praktische Verhinderung von Abschiebungen trug stark zum Bekanntheitsgrad der Karawane unter Flüchtlingen in München bei. Auch die Togoer/-innen, vor allem die Aktivistinnen der AFTA sahen in der Karawane eine geeignete Plattform, um gemeinsam eine breit angelegte Kampagne für ein Bleiberecht zu starten – trotz expliziter Warnungen seitens der Ausländerbehörde, sich nicht mit der Karawane einzulassen. Organisiert wurden Pressekonferenzen und Solidaritätsaufrufe an Schulen und Kindergärten und im Juni 2004 wurde fast eine Woche lang in der Innenstadt Münchens gecampt.

Zum Entstehen dieser Kampagne erzählt Adjoya Koffi:

Wir haben wegen der Probleme mit dem Asyl und der Wohnsituation angefangen, mit der Karawane zusammenzuarbeiten. Die Behörden behandelten uns, wie es ihnen passte. Darum haben wir die Karawane kontaktiert. Wir haben viele Sachen zusammen gemacht. Wir waren in Jena zur Demo gegen Abschiebungen. Wir waren in Fürth zu den Aktionstagen gegen das rassistische Lager. In München haben wir viele Demonstrationen mit der Karawane gehabt. 2004 wurden viele Familien aus Togo bedroht, bekamen Schreiben, dass sie das Land verlassen müsste. Eine Frau mit 4 Kindern wurde abgeschoben. In der Zeit 2003/2004 hatten alle viele Probleme, ich kann mich gar nicht mehr an alles erinnern. Wenn du Probleme hast, ist es schwer, die Sachen im Kopf zu behalten. Zu dieser Zeit, wenn du zur Ausländerbehörde gegangen bist, gaben sie dir ein Papier zum Unterschreiben. In dem Papier hieß es, dass man selbst bereit sei, zurückzukehren, obwohl sie es waren, die dich dazu verpflichteten, die Unterschrift für die Rückkehr abzugeben. Sie luden uns zur Leiterin der Ausländerbehörde vor und sagten uns, dass wir nach Hause zurückkehren müssten und uns beim Flüchtlingsamt ein Flugticket besorgen sollten. Leute von AFTA und der Karawane sind zur Ausländerbehörde gegangen, um dieses Problem anzusprechen. Die Karawane hat das alles organisiert. Der Flüchtlingsrat und die Karawane haben auch organisiert, dass wir eine Woche lang in einer Kirche geblieben sind und dort übernachtet haben. 2004 sind wir eine Woche lang am Stachus geblieben [Platz im Zentrum Münchens]. AFTA und die Karawane haben diese Demonstration gemeinsam organisiert. Es ging gegen Abschiebung, für alle Betroffenen und speziell für die Familien und Einzelpersonen, die zu diesem Zeitpunkt betroffen waren. Wir mussten handeln, denn man behandelte uns wie Tiere. Die Karawane hat gekämpft und sie hat den Leuten gesagt: >Kein Mensch ist illegal, Bleiberecht überall!< .

Der Erfolg der Kampagne war, dass nicht nur die beteiligten, sondern auch zahlreiche andere Münchener Familien, die vorher mit einer Abschiebung rechnen mussten, ein Bleiberecht bekamen. Er hatte viel damit zu tun, dass die Münchner Ausländerbehörde aufgrund der Presseresonanz sowie der zahlreichen empörten Reaktionen von Münchner Bürger/-innen und Abgeordneten einen Imageverlust im Falle der gewaltsamen Abschiebung von Familien mit Kindern befürchtete. Eine solche Kampagne hat allerdings auch Grenzen: Für allein stehende Erwachsene ohne Kinder ist es deutlich schwieriger, eine derartig breite Solidarität zu mobilisieren.

Kien Nghi Ha: Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand

aus: Analyse & Kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 517, 37. Jg., 18.05.2007, S. 27

Mit re/visionen erscheint im deutschsprachigen Raum erstmals ein Buch, das ausnahmslos Stimmen von People of Color versammelt. Entsprechend stehen hier die vielfältigen Perspektiven von Menschen mit außereuropäischen Flucht- und Migrationshintergründen sowie Schwarzen und Anderen Deutschen im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Diese konzeptionelle Grundlegung ist zentral, um uns auf den Zusammenhang zwischen rassifizierten Subjektpositionen und kritische Wissensproduktion zu konzentrieren.

In den 1960er Jahren erhielt der Begriff „People of Color“ in den USA – beeinflusst durch die weltweiten Befreiungskämpfe anti-kolonialer Revolutionär/-innen ­– neue politische Impulse. Inspiriert durch die Anfangserfolge der Black Panther zielten diese radikalen Bewegungen auf Selbstbehauptung und interkommunale Ansätze für die politische Zusammenarbeit. Aufbauend auf diese Erfahrungen wurde People of Color zu einer gemeinsamen Selbstbezeichnung, die Solidarität unter allen rassistisch Diskriminierten herstellt und quer zur rassistischen Politik des Teilens und Herrschens verläuft.

Dieses Buch knüpft insoweit an diese historischen Kämpfe und ihre Subjektperspektive an, in dem wir die Erfahrungen und das Wissen von People of Color als vielschichtigen Ausgangsrahmen für eine breitangelegte Auseinandersetzung mit vernachlässigten Themen begreifen. In vier Kapiteln mit mehr als 39 Beiträgen kommen Theoretiker/-innen, Aktivist/-innen und Kulturarbeiter/-innen zu Wort. Sie eröffnen einen gemeinsamen Diskussionsraum für postkoloniale Denkansätze und suchen nach Möglichkeiten der Übersetzung wie Weiterentwicklung.

Während im ersten Kapitel aktuelle Analysen zu Rassismus, anti-islamischer Kopftuch-Hysterie sowie dem ausgrenzenden Migrations- und Integrationsregime mit seinen kolonial-rassistischen Hintergründen im Vordergrund stehen, wird im zweiten Teil der Macht zur Konstruktion und Produktion kultureller Selbst- wie Fremdbilder nachgegangen. Die anschließenden Beiträge erörtern die Bedeutungen antirassistischer Kulturpolitik und werfen Fragen nach einer Kunst der kollektiven Selbstbestimmung auf. Abschließend werden unter anderem durch Gespräche mit ADEFRA und The VOICE sowie durch Beiträge der Koreanischen Frauengruppe und Karawane (München) das Verhältnis zwischen Widerstand, Individuum und Community thematisiert und durch ein Streitgespräch mit einem Mitglied von Kanak Attak partiell dokumentiert.

Um der hier vertretenen Diversität in ihren verschiedenen Ausdrucksformen gerecht zu werden, arbeiten wir nicht nur mit wissenschaftlichen Analysen und politischen Essays, sondern auch mit Interviews, literarischen Textformen, Kurzportraits, Geschichtssplittern und Comics. Durch diese unterschiedlichen Zugänge und Wahrnehmungsebenen entsteht ein komplexes Bild, das nicht abgeschlossen, vollständig oder einheitlich ist und auch nicht danach strebt.

Der Versuch marginalisierte Subjektperspektiven mit einer grenzüberschreitenden Identitätspolitik zu verbinden, um mit befreienden Impulsen in aktuelle politische Debatten einzugreifen, ist das Anliegen von re/visionen.