Rostock-Lichtenhagen

Anlässlich des Migrationsaktionstag am 4. Juni 2007 in Rostock hat die Karawane München eine Kundgebung in Rostock-Lichtenhagen organisiert, um den Opfern von Rassismus und staatlicher Abschiebepolitk zu gedenken. Im August 1992 kam es an drei Tagen zu schweren Pogromen gegen AusländerInnen, die Polizei schritt kaum ein. Die Politiker nutzen die Situation, um den Artikel 16 GG, das Grundrecht auf Asyl, grundlegend umzukrempeln.
Uns als Karawane war es daher wichtig, nocheinmal daran zu erinnern, wie eine Koalition aus Nazis, „normalen“ Rassisten und deutschen Politikern damals agierten und Terror gegen Flüchtlinge und AusländerInnen strategisch benutzen, um eine latente ausländerfeindliche Stimmung in Deutschland weiter anzuheizen und den Weg zu einer Grundgesetzänderung vorzubereiten, die bis heute nachwirkt. Näheres kann in unserem Aufruf nachgelesen werden, der weiter unten kommt. Wir werden auch nocheinmal detaillierter auf den Ablauf der Kundgebung eingehen und weitere Texte publizieren, aber hier schon mal ein kurzer Videoclip von g8-tv.org.

Weitere Informationen:

Aufruf: Drei Tage im August . . . und viele Jahre mehr

August 1992, Rostock-Lichtenhagen: Neonazis greifen unter dem Beifall Tausender die Zentrale Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge (ZAst) sowie ein Wohnheim vietnamesischer ArbeiterInnen mit Steinen und Molotowcocktails an. Das Pogrom dauert mehrere Tage. Die Polizei gewährt den BewohnerInnen keinen Schutz. Kurz danach gibt die SPD ihren Widerstand gegen die Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes auf. In faktischer Zusammenarbeit zwischen Nazis, ganz „normalen“ RassistInnen und deutschem Staat wird das Grundrecht auf Asyl entsorgt, Abschiebung, Ausschluss und Entrechtung wird dauerhaft als Umgang mit MigrantInnen und Flüchtlingen festgeschrieben.

Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, dass eine Ergänzung des Asylrechtes dringend erforderlich ist, weil die Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird

sagte der damalige Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Bernd Seite (CDU) auf einer Pressekonferenz wenige Stunden nach dem die Angriffe ihren Höhepunkt erreicht hatten. Die Opfer wurden damit zu den Schuldigen gemacht. Doch was ging dieser unglaublichen Äußerung voraus, was sollte mir ihr bezweckt werden?

Die Zentrale Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern war im Frühjahr 1992 hoffnungslos überfüllt. Neuankommende Flüchtlinge wurden tagelang dazu gezwungen, vor der ZAst zu campieren, um einen Asylantrag stellen. Es wurden nicht einmal mobile Toiletten aufgestellt, denn

das hätte bedeutet, das wir einen Zustand legalisieren, den wir nicht haben wollen

so Rostocks damaliger Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD).

Am Dienstag, dem 18. August, meldete sich in der Redaktion der Norddeutschen Nachrichten ein anonymer Anrufer und drohte:

Wenn die Stadt nicht bis Ende der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das. Und zwar auf unsere Weise.

Ähnliche Ankündigungen gingen auch bei anderen Zeitungen ein und wurden auch veröffentlicht. Trotz dieser eindeutigen Drohungen konnten die zuständigen Politiker und Polizisten angeblich keinerlei Gefährdung erkennen. Es seien ja schließlich keine Demonstrationen für das Wochenende angemeldet worden.

Samstag, 22. August 1992
Im Laufe des Tages sammelten sich vor der ZAst bis zu 2.000 Menschen. Am frühen Abend wurden aus der Menge heraus Steine und Molotowcocktails gegen das Gebäude geschmissen. Lächerliche 30 Schutzpolizisten der insgesamt über 1.100 Rostocker Polizisten sollten dem Treiben Einhalt gebieten. Aufgrund des zahlenmäßigen Ungleichgewichtes konnten sie die BewohnerInnen der ZAst nicht mal ansatzweise schützen, da sie genug damit zu tun hatten, sich um ihre eigene Sicherheit zu kümmern. Die seltsamerweise erst kurz zuvor von Rostock nach Schwerin verlegten Wasserwerfer trafen erst gegen zwei Uhr nachts in Lichtenhagen ein. Sie versprühten ihr Wasser planlos und wurden daraufhin wieder nach Schwerin abgezogen. Dieser „Sieg“ über die Wasserwerfer heizte die Stimmung weiter an. Erst am frühen Morgen beruhigte sich die Lage.

Sonntag, 23. August 1992
Die Menge versammelte sich erneut, unterstützt durch bundesweit bekannte Nazis wie Christian Worch. Erneut wurde die ZAst sowie das direkt daran angrenzende Wohnheim vietnamesischer ArbeiterInnen attackiert. Eine Antifa-Demonstration wurde von der Polizei aufgelöst.

Montag, 24. August 1992
Die BewohnerInnen der ZAst wurden unter Polizeischutz evakuiert. Die vietnamesischen ArbeiterInnen wurden jedoch weiterhin ihrem Schicksal überlassen. Am Abend spitzte sich die Lage dramatisch zu, die Angreifer drangen in das Haus ein. Die unteren Etagen wurden in Brand gesetzt. In dem Haus befanden sich noch über 120 Menschen. Es gelang ihnen, die verschlossenen Fluchttüren zum Nachbarhaus aufzubrechen, so dass es zu keinen Toten kam.

Tatsache ist, dass zu keinem Zeitpunkt ausreichend Polizeikräfte vor Ort waren, um den Schutz der Bewohner der ZAst bzw. des Wohnheim zu garantieren. Handelte es sich hierbei nur um eine Polizeipanne? Es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass dem nicht so war:

Obwohl seit geraumer Zeit die Situation vor bzw. in der ZAst bekannt war, wurde zu keinem Zeitpunkt der Versuch unternommen, die Verhältnisse zu verbessern. Der geplante Umzug der ZAst in ein größeres Gebäude wurde wieder und wieder verschoben.

Der Polizeieinsatz wurde vom Chef der Rostocker Schutzpolizei, Jürgen Deckert, geleitet. Dieser hatte keinerlei Erfahrung mit solchen Einsätzen. Sein Vorgesetzter, Siegfried Kordus, sowie der Landespolizeichef Hans-Heinrich Heinsen, polizeiintern bekannt als der „Sieger von Brokdorf“, übernahmen weder die Einsatzleitung noch unterstützten sie Deckert. Die Vermutung liegt nahe, dass Deckert ein Bauernopfer war. Deckert selbst sagte damals gegenüber dem Chef einer Hamburger Hundertschaft:

Ich glaube, ich werde politisch allein gelassen.

Obwohl die Gefährdung der Vietnamesen bekannt war, wurden sie nicht gemeinsam mit den BewohnerInnen der ZAst evakuiert.

Am Montagnachmittag fand in der Rostocker Polizeidirektion eine Sitzung mit Bundesinnenminister Seiters (CDU), BGS-Inspekteur Hitz, Ministerpräsident Seite (CDU), Landesinnenminister Kupfer (CDU), dem Schweriner Abteilungsleiter „Öffentliche Sicherheit“ von Breven und dem Rostocker Polizeidirektor Kordus statt. Inhalt und Ergebnis dieses Gesprächs sind nicht bekannt geworden. Wohl nicht zufällig wurde am nächsten Tag mit der oben zitierten Äußerung des Ministerpräsidenten Seite der Abschied vom Asylgrundrecht eingeläutet.

Während des Pogroms gab es kaum Festnahmen. Lediglich Teilnehmer der Antifademonstration wurden festgenommen. Die letzten Angreifer wurden erst zehn Jahre später zu geringen Haftstrafen verurteilt. Diese wurden mit der Begründung, dass die Ereignisse schon lange zurücklägen, größtenteils zur Bewährung ausgesetzt.

Dies sind nur einige der Belege, die nach dem Pogrom recherchiert wurden. Eine Gesamtdarstellung findet sich in dem Buch „Politische Brandstiftung – Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging“ von Jochen Schmidt, der die Ereignisse selbst miterlebt und anschließend mehrere Jahre die Hintergründe recherchiert hat.

Die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen waren ohne Zweifel Teil eines strategischen Konzepts der Unionsparteien. Ziel war, das im Grundgesetz ohne Einschränkung garantierte Asylrecht abzuschaffen. Eine Grundgesetzänderung, die eine Zweidrittel-Mehrheit erforderte, stand bis zu diesem Zeitpunkt nicht in Aussicht, da SPD und Grüne diese ablehnten. Auch die Stimmung in der Bevölkerung war durchaus geteilt. Das Ziel der Unionsparteien bestand darin, ein Klima zu schaffen, in welchem sowohl die Stimmung in der Bevölkerung kippen und auch SPD und Grüne massiv unter Druck geraten sollte.

Das Manöver zeigte durchschlagenden Erfolg. Die SPD, in der Sorge, sie könnte den Anschluss an die Stimmung der Bevölkerung verlieren, knickte ein und stimmte der Verfassungsänderung zu. Am 1. Juli 1993 trat der neue Artikel 16a GG in Kraft. Die darin verankerten Einschränkungen des Asylrechts wurden in den folgenden Jahren von den anderen europäischen Ländern übernommen und wurden zum Grundstein für die Abschottung Europas. In der Folge haben die meisten Flüchtlinge in Deutschland heute keinerlei reelle Chance mehr, Asyl zu bekommen. Nur noch wenige schaffen es überhaupt, auf legalem Weg nach Westeuropa zu kommen. Lagerunterbringung, sozialer Ausschluss und ständige Angst vor Abschiebung, ohne Perspektive auf ein Bleiberecht, prägen den Alltag von Flüchtlingen. Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen steht damit historisch für die bis in die Gegenwart fortwirkende Verschärfung von institutionellem Rassismus als Leitmotiv staatlicher Migrationspolitik.

Das Einmalige an Rostock-Lichtenhagen waren nicht die gewalttätigen Übergriffe auf AusländerInnen. Diese hatte es davor und danach gegeben. Einmalig war die offene Solidarisierung der Bevölkerung mit den Angreifern sowie die Instrumentalisierung der Pogrome durch die Politik. Mit unserer Kundgebung wollen wir nicht nur an die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen erinnern, sondern auch allen Opfern rassistischer Gewalt und staatlicher Abschottungspolitik gedenken.

Kundgebung am Montag, 4. Juni 2007, 10 Uhr, vor dem Sonnenblumenhaus, S-Bahn Station Lichtenhagen.